Wenn Gebautes lebendig wird
Lebendige und zukunftsfähige Architektur erstreckt sich über fünf Dimensionen. Sie ist konstruiert und gestaltet, ihre Materialien stammen aus einem möglichst geschlossenen ökologischen Kreislauf. Gebäude beinhalten bestimmte Nutzungen, und vor allen Dingen dienen sie dem Leben und den Bedürfnissen der Menschen.
Räume und Bauteile geben Anlass, Unterstützung und Schutz für den Aufenthalt, sie fördern Tätigkeiten und Wohlbefinden. Nischen ermöglichen Zurückgezogenheit und Privatheit, Plätze unterstützen Gemeinschaft, Wege fördern Begegnung und vieles mehr. Konstruktion, Gestaltung, Nutzung und Ökologie zu berücksichtigen ist eine gängige und übliche Vorgehensweise beim Bauen. Die Lebendigkeit des Gebautem jedoch ist seit Beginn der Industrialisierung mehr und mehr verloren gegangen.
Der folgende Text beschreibt eine Herangehensweise wie die Lebendigkeit wieder zurückgewonnen werden kann.
Auch mit neu gebauter Architektur kann eine Lebensqualität entstehen, wie man es sonst nur von gewachsener Bebauung aus früherer Zeit kennt. Wenn Entwurf, Planung und das Bauen selbst zu einem prozesshaften Entstehungsprozess verschmelzen, in dem alle fünf Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt werden, bekommt die Lebendigkeit einen gleichberechtigten Stellenwert neben Technik, Ästhetik, Funktionlität und Ökologie. Ein Gebäude, z.B. der Grundriss wird dabei nicht losgelöst von seiner Umgebung entwickelt, sondern in intensiver Beziehung zu ihr.
Eine Mustersprache für lebendige Architektur
Wie fördert man so etwas Komplexes wie Aufenthaltsqualität und Lebendigkeit? Reicht es nicht einfach, dass man die richtigen Nutzungen plant, im Falle eines Wohnhauses z.B. ein Wohnzimmer nicht vergessen wird? Wie wird etwas gemütlich, vielleicht etwa indem man irgendwo ein Sofa platziert?
Wirklich lebendige Gebäude, gute Beispiele gewachsener Bebauung geben Auskunft und offenbaren ein wahres Netzwerk von Beziehungen und Verbindungen. Wie in der Vielfalt der menschlichen Verhaltensweisen, Vorlieben und Aktivitäten sind in dieser Bebauung viele Ähnlichkeiten erkennbar, die der Architekt Christopher Alexander „Muster“ nennt. Für den amerikanischen Kulturkreis und aus Sicht der 70er Jahre hat er in seinem Buch „Eine Mustersprache“, über zweihundertfünfzig dieser Muster formuliert.
Abgewandelt und auf unsere Zeit und unseren Kulturkreis angepasst, ist es mit solchen Mustern möglich, lebendige Architektur entstehen zu lassen, die den Mensch in den Mittelpunkt stellt und ein größeres Maß an Privatheit auf der einen und Nachbarschaft auf der anderen Seite ermöglicht.
Der Gestaltungsprozess mit Mustern
Es beginnt beim Großen Ganzen. Nach und nach lässt man etwa ein dutzend ausgewählte Muster, die Art und Umfang des Vorhabens am ehesten entsprechen auf dieses Große Ganze einwirken. Soll ein einzelnes Haus entstehen, wird mit dem eigenen Grundstück begonnen, möglichst auch mit der umgebenden Nachbarschaft. Soll eine Gruppe von mehreren Häusern entstehen, beginnen wir mit der Nachbarschaft, möglichst auch mit der Siedlung, bzw. dem Ortsteil. Dieses große Ganze wird mit Hilfe der Muster Stück für Stück in Gedanken, auf dem Papier oder vor Ort mit Pflöcken und Bändern zu dem gestaltet, was es zukünftig werden soll. Mit Räumen für privates Leben, Plätzen für Gemeinschaft, mit Bereichen für Arbeit und Wohnen, mit eigenen Zimmern, und dem eigenen Garten. Mit einladenden Eingängen und klaren Abgrenzungen und mit Übergängen zwischen privaten und öffentlichen Bereichen. Im Vordergrund steht das, was die besondere Art des Lebens in den zukünftigen Räumen fördert. Dabei wird nichts erzwungen –
Die Muster sind wie Verbindungsstücke die das Leben und das Gebaute zu einer Einheit verschmelzen lässt. Ein Architekt kann helfen, die erst einmal logische, rationelle Anordnung der Elemente, wie ein Dichter in Poesie zu verwandeln, wenn diese sich gegenseitig unterstützen und Synergieeffekte genutzt werden. Eine Gestaltung mit Mustern lässt einen das Leben in den eigenen vier Wänden und draußen zwischen Häusern und Pflanzen neu entdecken.
Möglichkeiten der Zusammenarbeit
Je nach Art und Umfang der Bauaufgabe, wird der Gestaltungsarbeit mit Mustern mehr oder weniger Raum gegeben. Bei einem einzelnem Haus und knappen Baubudget kann bereits ein Tag den entscheidenden Lebensfunken in den Entstehungsprozess einbringen. Bei komplexeren Objekten, wie Mehrfamilienhäusern, Hausgruppen oder Siedlungen werden mind. ein bis zwei Wochenenden der gemeinsamen Arbeit nötig sein. Ob einfach oder komplex, ist eine individuelle Mustersprache einmal festgelegt, begleitet sie den Entstehungsprozess über Monate, letztendlich über Jahre in Form eines roten Fadens für Umbau, Anbau und Außenraumgestaltung.
Zwei sehr schöne Muster mögen an dieser Stelle als Beispiel dienen. Sie laden ein, zu einem spannenden und befriedigenden Gestaltungsprozess an dessen Ende ein Gebäude steht, dass das Leben leicht und vielfältig machen kann.
Gebäudekante
Jeder neu geschaffene Fleck soll kompromisslos Aufenthaltsqualität haben, jedes Stück Wand lädt nicht nur Innen, sondern vor allem auch Außen zum Aufenthalt ein. Vorsprünge, Nischen, Vordächer geben Schutz und Gemütlichkeit, eine formale Entscheidung nach draußen zu gehen entfällt, das Leben fließt zwischen innen und außen hin und her. Sind Gebäudekanten von außen belebt, erhält der gesamte angrenzende Außenraum Lebensqualität und Bezug. Nachbarschaft kann entstehen, und gemeinschaftliche Plätze erhalten eine Einfassung.
Eingang
Jedes Gebäude braucht einen klaren Eingang. Seine Lage richtet sich nach der Zuwegung und den zugehörigen Gemeinschaftsflächen. Er liegt „Gesicht zu Gesicht“ zu den Eingängen der Nachbarschaft, damit schon durch die normalen alltäglichen Erledigungen Begegnungen angeboten werden. Der Haupteingang ist klar als solcher erkennbar und vermittelt zusammen mit einer Zone vor dem Eingang und einem Eingangsraum im Inneren zwischen öffentlichem und privatem Bereich. So gibt er mehr Sicherheit und regelt Nähe und Distanz. Er strahlt ein Willkommen aus und bietet z.B. mit Hilfe eines Vordachs schon Schutz vor Wind und Wetter, bevor man innen angekommen ist. Unter einem Vordach kann man auch sitzen und das Geschehen draußen mit der eigenen Privatheit im Rücken beobachten oder je nach Laune am Leben teilnehmen und zu einem Schwätzchen auf die Straße oder den Zaun gehen. Er ermöglicht Blicke von innen nach außen und umgekehrt.
Beide Muster sind eng mit vielen anderen verbunden, die Hinweise geben zu der Art von Wänden und Öffnungen, zu der Form von Wegen, der Größe von Plätzen wie man Außenräume einfasst, damit sie trotz Wind und Wetter zum Aufenthalt einladen.
(Siehe Christopher Alexander, „Eine Mustersprache“, Löcker Verlag, 1995)